Obwohl durchaus verständlich ist, dass viele, unter Anderem viele jüdische Organisationen, auf das Beschneidungsurteil, wonach Beschneidungen aus religiösen Gründen nicht gestattet seien, mit Empörung reagierten und schwerwiegenden Anklagen mit noch schwerwiegenderen Analogien Ausdruck verliehen haben, möchten wir,  selber jüdisch veranlagt, das Argument aus einem anderen Standpunkt und mit einer anderen Argumentationsweise darlegen, nämlich vom Standpunkt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und mit einer argumentativ-logischen Analyse. Ausdrücke der Empörung, Aufrufe zur Reue und reductio ad Hitlerum sind doch keine schlüssigen Argumente…

Die Reihenfolge der Argumente ist in diesem Falle, so wie eigentlich im Allgemeinen, sehr wichtig. Die verschiedenen Argumente, auf denen eine Behauptung aufgebaut ist, sind selber hierarchisch geordnet: ein Argument kann mehrere andere voraussetzen oder beinhalten. Wenn wir die Argumente, die wir als grundliegend ansehen, dargelegt und ergründet haben, können wir dann die Fortsetzung der Diskussion darauf aufbauen. Diese Verfahrensweise ändert nichts daran, dass die von uns vorgeführten Argumente für sich selber geradestehen, wir vermeiden aber die Falle unbewiesener Voraussetzungen, die eine Diskussion tückisch und  unauffällig verdrehen können.

Die Argumentation

1)      Die gesundheitlichen Vorteile der Beschneidung sind nach einigen maßgebenden Quellen  zahlreicher als deren mutmaßlichen Nachteile.  Wir brauchen keine vollständige Sicherheit an der absoluten Wahrheit dieser Stellungnahme, da wir ja auch keine solche unveränderliche und absolute Sicherheiten im Falle der Entfernung der Mandeln oder des Blinddarms, und im Allgemeinen im Falle von vielen medizinischen Eingriffen oder Medikamenten haben. Es genügt, dass die Eltern, die das Wohl des Kindes vor ihren Augen halten (als ein  bonus et diligens pater familias), die Auffassung mit glaubwürdigen wissenschaftlichen Aussagen begründen können, nach denen die gesundheitliche Bilanz des Eingriffs positiv zugunsten des Kindes fällt, abgesehen von dessen religiöser Bedeutung. Das ist das grundlegende Argument, auf dem die folgende Diskussion aufgebaut ist. Wenn wir uns das vor Augen halten, können wir vermeiden, dass in einem anderen Kontext die  Gegendarstellung des schon bewiesenen Tatbestandes als unbelegte und unnachgewiesene Präsupposition (Voraussetzung) wieder erscheint.

2)      Die Motivationen des menschlichen Handelns können mannigfaltig and manchmal ja auch in sich widersprüchlich sein. Eine Motivation kann eine andere Motivation beinhalten und verschiedene Motivationen können einer Tat unterliegen, und zwar manchmal auch dann, wenn sie sich eigentlich  gegenseitig ausschließen... Es könnte sehr wohl der Fall sein, dass ein jüdischer Familienvater im demselben Moment von den gesundheitlichen und zugleich von den spirituellen Vorteilen der Beschneidung überzeugt ist. Die erste ist medizinisch belegbar (im Sinne des Punktes 1), die zweite ist seine private Angelegenheit, in dem der liberale Staat nichts zu suchen hat, da, wenn eine Tat an und für sich anderen keinen Schaden zufügt,  (im Sinne des Punktes 1), und dafür eine genügende und im allgemeinen akzeptierte „objektive” Motivation vorliegt, der liberale Staat darf nicht nach eventuellen anderen Motivationen Ausschau halten, da diese  Privatangelegenheiten des handelnden Menschen sind. Es gibt gewisse Deutungen, nach denen schon das eigentliche religiöse Gebot auf gesundheitlichen Gründen zuruckzuführen sei, und diese Deutungen, zwar streng halachisch nicht sehr wohlwollend gesehen werden, doch nie eindeutig widerlegt worden sind. Wer weiß, vielleicht sind in den Köpfen der Eltern diese zweierlei Motivationen – die gesundheitliche und die religiöse – untrennbar zusammengewachsen… Wie will dann der liberale Staat diese trennen, und sagen, dass wenn der Familienvater bei seiner Entscheidung an das religiöse Gebot denkt, dann ist das Verfahren verboten, wenn aber an die – für eine verantwortliche Entscheidung genügend bewiesenen – gesundheitlichen Vorteile, dann kann das Messer ruhig zuschlagen…? Warum soll der liberale Staat sich in diesen Morast verirren? Er darf doch nicht einen Eingriff, dessen gesundheitliche Vorteile für eine verantwortliche Entscheidung genügend bewiesen sind, nur deswegen verbieten, weil die Eltern dabei an religiöse Gebote oder auch an religiöse Gebote gedacht haben könnten... Soll etwa die präventive Tonsillektomie bei Kindern auch verboten werden, wenn der Verdacht besteht, dass die Eltern im Moment der Entscheidung an einen schwarzen Hahn gedacht haben könnten?

Fazit: Der liberale Staat darf nicht einen Präventiveingriff, dessen gesundheitlichen Vorteile für eine verantwortliche elterliche Entscheidung genügend bewiesen sind, deshalb verbieten, weil die Eltern dabei andere oder auch andere –  nämlich religiöse – Motivationen dafür gehabt haben. Das wäre eine Art Verfolgung der Religion, präziser gesagt, gewisser Religionen, weil deren gewisse an und für sich nicht gesundheitsgefährdende Gebote zu  verbietenden Praktiken abstempelt werden…

Der liberale Staat darf hingegen die nötigen vorbeugenden Maßnahmen veranlassen, damit die Beschneidung unter sicheren und nicht gesundheitsgefährdenden Umständen verläuft. Dabei kann er eine Prüfung, ein Protokoll oder gar die Anwesenheit eines Arztes vorschreiben – aber nur in diesem Rahmen, und nicht darüber hinaus, weil der liberale Staat die Ausübung der religiösen Akte fördern und nicht verhindern, und deshalb keine zum Zweck nicht unbedingt nötigen Beschränkungen vorschreiben soll, wie es zum Beispiel eine inakzeptable Beschränkung wäre, wenn der Eingriff nur durch einen Arzt vorgenommen werden dürfte.

3)      Ein Politiker  schlägt einen „symbolischen Akt” anstatt der Beschneidung den Juden vor.

Nun, im Römerbrief (2, 28-29) schreibt Paulus: Jude ist nicht, wer es nach außen hin ist, und Beschneidung ist nicht, was sichtbar am Fleisch geschieht, sondern Jude ist, wer es im Verborgenen ist, und Beschneidung ist, was am Herzen durch den Geist, nicht durch den Buchstaben geschieht.

Das ist eine Auffassung, die durch das christliche Gedankengut geprägte Gesellschaften eigen nennen, aber es hat noch niemand wissenschaftlich bewiesen, dass Spiritualisierung und Sublimation anderen Auffassungen überlegen wären… Der liberale Staat und die Richter eines liberalen Staates, die den Eid auf Treue zum Grundgesetz geleistet haben,  wollen ja hoffentlich in diesen Glaubensangelegenheiten nicht Stellung nehmen, um die sich vom Judentum bewusst distanzierende paulinische Theologie dem Judentum aufzuzwingen! Wir können es nicht vermeiden, wieder und wieder – ad nauseam  an unseren Punkt 1 zurückzureichen, nach dem Beschneidung ein Eingriff ist, dessen  gesundheitlichen Vorteile für eine verantwortliche elterliche Entscheidung genügend bewiesen sind. Wenn dem so ist, und es ist so, wie wagt dann Raju Sharma, religionspolitischer Sprecher der Linksfraktion, also ein Abgeordneter des im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gewählten Bundestages, sich  darin einzumischen, und die Mitglieder einer Glaubensgeminschaft Rate darüber zu erteilen, wie sie ihren Rituale abändern sollen?

4)      Sehen wir uns jetzt das „Brandmarken-Argument” an, wonach die Beschneidung ein untilgbares Kennzeichen auf dem Mann setzt, welches verhindert, dass er seine Identität frei definiert. Das Argument ist falsch. 

41) Erstens genügt die Beschneidung nicht für eine Identitätsidentifizierung, da nicht nur eine Gruppe die Beschneidung praktiziert, sondern mehrere. Die Beschneidung kann wohlbekannt aus reinen medizinischen Gründen erfolgen, und das auch für alle in Frage kommenden Menschengruppen.

42) Diejenigen, die für ein Verbot der Beschneidung aus religiösen Gründen sind, könnten auch  davon ausgehen, wie die in Frage kommenden Glaubensgruppen  das Zweck dieser Akt  definieren: für den Judaismus Beschneidung ist etwa ein Zeichen des ewigen Bündnisses mit dem Allmächtigen.

Das sollte aber für den liberalen Staat völlig belanglos sein. Hier zählen nur die objektiv ergründlichen Tatsachen. Und die objektiv ergründliche Tatsache ist, dass jemand, der beschnitten ist, und die eigene ursprüngliche Zugehörigkeit - das heißt, die religiösen Motiven seiner Beschneidung - nicht preisgeben will, sich jederzeit auf medizinische Gründe oder auf eine mit der tatsächlichen Zugehörigkeit nicht identischen Zugehörigkeit berufen kann.

43) Wer sagt, dass ein solcher Akt den Interessierten zu einer Lüge zwingt, und daher eine psyschische Belastung darstellt, soll sich eines Besseren besinnen, da die Situation, in dem so etwas vorkommen kann, selber schon auf eine Unwahrheit gebaut ist, und mit der Identität reichlich wenig zu tun hat, indem die Beschneidung – auch wenn sie für die Identifizierung geeignet wäre, was, wie wir gesehen haben, nicht der Fall ist – nicht von der Identität, die für den liberalen Staat  nur durch Selbstdefinierung festgelegt werden kann, sondern bestenfalls von der ursprünglichen Zugehörigkeit zeugen könnte. Wenn aber die ursprüngliche Zugehörigkeit doch irgendwie mit der Identität für den liberalen Staat zusammenhängt, dann ist das ganze „Brandmarken-Argument” vom Tisch: Die Person hatte doch tatsächlich seine ursprüngliche Zugehörigkeit inne…

44) Die Beschneidung ist nicht wie die Burka: sie fällt im alltäglichen Verkehr nicht auf. Sie zwingt daher Außenstehende zu keiner Stellungnahme. Und wer sich vor einen oder mehreren Menschen entblößt und seine Genitalien aufdeckt, ist normalerweise in einer intimen Situtation, oder zumindest in einem relativ kleinen Umkreis, und kann daher zur Schau jede Erklärung oder Interpretation hinzufügen, wenn er es will.

5)      In Folge der Punkte 1-4 können wir mit Grund behaupten, dass diejenigen, die in einer liberalen Demokratie die Beschneidung verbieten wollen, auch wenn die sich auf die Grundwerte der liberalen Demokratie berufen, tatsächlich genau diese Grundwerte gefährden und beschädigen, und zwar in einem bedeutend hohen Maße und mit  schwerwiegenden gesellsachftlichen Folgen, weil diese verbietende Maßnahme in der Wirklichkeit genau und ausschließlich darum eingeleitet wäre, weil die Entscheidung auch eine religiöse Motivation haben kann, und das ist nichts anderes als Religionsfreiheitsentzug und damit Meinungsfreiheitsentzug. 

6)      Reductio ad absurdum: Wir haben bewiesen, dass weil der liberale Staat die religiösen  Hintergründe der Beschneidung nicht unter die Lupe nehmen soll, die Beschneidung für den liberalen Staat nichts anderes darstellen kann, als einen auch aus medizinischen Gründen vorzunehmenden vorbeugenden Entfernungseingriff. Daher müsste der liberale Staat, wenn er diesen Eingriff verbietete, auch alle anderen vorbeugenden Entfernungseingriffe wie Tonsillectomie und Blinddarmoperation verbieten. Das wäre natürlich undenkbar.

Der liberale Staat darf des Weiteren unter nicht gesundheitsgefährdenden körperlichen und nicht körperlichen – aus religiösen Gründen vorgenommenen – Akten und zwischen körperlichen und seelischen Brandmarken unterscheiden. Und weil eine Milliarde Menschen glauben, dass die Taufe eine nicht zu tilgende, ewig bleibende Brandmarke ist, wenn die Beschneidung Minderjähriger verboten wird, soll auch die Kindertaufe weg…  Was natürlich eine unheilige und absurde Maßnahme wäre.

Einigen wir uns doch darauf, dass alle beide frei bleiben.

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